Gestalttherapie

Die Gestalttherapie ist ein erlebnisaktivierendes Verfahren mit dem Ziel der Reifung und Entfaltung der Persönlichkeit. Der Schwerpunkt liegt hier eher auf der experimentellen Identifikation mit den Anteilen unserer Persönlichkeit, die wir in der Alltagswirklichkeit kaum oder nicht wahrnehmen.

Es wird davon ausgegangen, dass das wichtigste Bedürfnis, der wichtigste Impuls, das wichtigste Thema sich stets als „Gestalt“, d.h. als sinnhaftes Etwas in den Vordergrund schiebt, um beantwortet und so abgeschlossen zu werden. Ist eine Gestalt abgeschlossen, kann ein neues Thema in den Vordergrund treten. Jedes Problem wird als eine „unabgeschlossene“ Gestalt gesehen, die sich so lange „aktualisiert“, d.h. in Varianten immer wieder auftritt, bis das zugrunde liegende Bedürfnis beantwortet oder das jeweilige Thema abgeschlossen ist.

In der Sitzung wird also mit dem gearbeitet, was „Hier und Jetzt“ auftaucht. Meistens sind dies Themen oder Probleme, die ungelöst sind, die Person auch in anderen Situationen blockieren. Dabei ist die Erfahrung, das Erleben wichtiger als das „darüber reden“.

Verantwortung wird als existentielle Notwendigkeit gesehen auf die jeweilige Situation oder das jeweilige (eigene) Bedürfnis zu antworten. Verantwortung, im Sinne einer Antwort kann erst dann erfolgen, wenn ein Mensch mit sich selbst und äußeren Gegebenheiten in Kontakt ist und wahrnimmt, um was es geht und welche Art von Antwort erforderlich ist. Deshalb wird immer auch am Gewahrsein gearbeitet.

Eine Grundannahme besagt, dass Menschwerdung durch authentische Begegnung und Beziehung geschieht. Krankheiten der Seele werden als Krankheiten der Beziehung verstanden. Die therapeutische Beziehung steht in der Gestaltarbeit also im Mittelpunkt der Therapie. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit betont, selbst Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Gefühle, das eigene Handeln und das eigene Leben zu übernehmen.

 

Die Gestalttherapie ist ein erlebnisaktivierendes Therapieverfahren der humanistischen Psychologie. Ziel ist die Reifung und Entfaltung der Persönlichkeit. Sie wurde von dem Psychiater Fritz Perls, der Psychologin Laura Perls und dem Sozialphilosophen Paul Goodman in Abgrenzung zur Psychoanalyse und dem Behaviorismus (Verhaltenstherapie) entwickelt. Wichtige Einflüsse stammen aus der Tiefenpsychologie, der Existenzphilosopie, der Gestaltpsychologie (universitäre Wahrnehmungsforschung), dem Zen, dem Psychodrama und der Gruppendynamik.

Die Gestaltpsychologie beschäftigte sich mit der Bildung von „Gestaltwahrnehmung“, d.h. damit wie wir eine sinnhafte, zusammengehörige Ganzheit, eine „Gestalt“ erleben können. Eine „Gestalt“ wird immer vor einem Hintergrund wahrgenommen, von dem sie sich abhebt. Die Figur und der Hintergrund gehören in diesem Sinne zusammen. Daraus wurde in der Gestalttherapie abgeleitet, dass jedes Individuum Teil eines größeren Ganzen bzw. Teil eines größeren Feldes ist. Darüber hinaus konnte die universitäre Gestaltpsychologie erstmals belegen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile (1+1=3). Berühmtestes Beispiel ist eine Beziehung, in der Qualitäten auftreten, die weit über die Grundqualitäten der beteiligten Personen hinausgehen. Interessante aktuelle Forschungen zu diesem Thema beschäftigen sich z.B. mit der Schwarmintelligenz, die weit über die Intelligenz von „Einzelbienen“ hinausgeht oder dem „plötzlichen“, „emergenten“ Auftauchen von nichtmateriellem Bewusstsein aus neuronaler Materie. Die Grundannahme („das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile“) stellte zur Entstehungszeit der Gestalttherapie (40iger Jahre) einen Paradigmenwechsel gegenüber einer analytischen Grundhaltung dar. Mit beiden Grundprämissen kann die Gestaltpsychologie bereits als Wegbereiter der Systemischen Ansätze gesehen werden.

Als wichtigstes Figur-Grund-Geschehen wird in der Gestalttherapie der „Kontaktzyklus“ gesehen. „Kontaktzyklus“ meint, dass zu jedem Zeitpunkt das dringendste Bedürfnis einer Person als wahrnehmbare Gestalt in den Vordergrund tritt und erst wieder im Hintergrund verschwindet, wenn es befriedigt wurde oder von einem noch stärken Bedürfnis in den Hintergrund gedrängt wird. Als Beispiel kann hier der Zyklus von Hunger und Sättigung genommen werden. Wenn der Blutzuckerspiegel sinkt, tritt – zunächst leicht, dann immer stärker – Hunger in unsere Wahrnehmung ein. Sobald wir diesen wahrgenommen haben, können wir uns damit beschäftigen, ob und wenn ja, wie wir darauf antworten wollen. Dann erfolgt die Handlung und sobald das Bedürfnis befriedigt ist, verschwindet es und etwas anderes – was dann jeweils am wichtigsten ist – kann in den Vordergrund treten.

Kontakt mit etwas außerhalb von uns bedeutet außerdem in der Regel, dass wir etwas von außen aufnehmen und dann verdauen/assimilieren oder aber unverdaut in uns behalten oder wieder aussortieren (z.B. Nahrung, Information, Botschaften über uns und die Welt, etc.).

Innerhalb des Kontaktzyklus kommt es zu Problemen (in der Gestaltherapie „Kontaktstörungen“ genannt), wenn eine neue Gestalt nicht wahrgenommen wird (z.B. Aggression wird als grundsätzlich schlecht bewertet und aus der eigenen Person „herausdefiniert“ und dann nicht wahrgenommen). Obwohl sie vom Organismus erzeugt und in den Vordergrund geschoben wird, kann sie dann – weil nicht wahrgenommen – nicht angemessen beantwortet werden. Es wird davon ausgegangen, dass „unabgeschlossene Gestalten“ immer wieder in den Vordergrund kommen, d.h. sich aktualisieren bis sie abgeschlossen, bzw. das Bedürfnis beantwortet ist.

In der Gestalttherapie wird also schlussfolgernd davon ausgegangen, dass das Problem sich im Hier und Jetzt aktualisiert. Das heißt, eine sogenannte unabgeschlossene Gestalt zeigt sich auch in den gegenwärtigen Beziehungen bzw. der gegenwärtigen Situation – dies kann auch die Therapiesitzung sein.

Das Problem ist entstanden – so die Theorie – weil ein Mensch mit sich selbst oder aber mit äußeren Gegebenheiten nicht wirklich in Kontakt ist. Deshalb wird zunächst am Gewahrsein gearbeitet, um die Wahrnehmung aller in einem Augenblick vorhandenen und bestimmenden Gefühle, Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu entwickeln bzw. zu verfeinern. Therapieziel ist es, abgewehrte innere Anteile zu integrieren, den Kontakt zum Hier und Jetzt bzw. zur eigenen Person wieder herzustellen, die Fähigkeit zur Selbstregulation zu erhöhen und Verantwortung für das eigene Handeln und Leben zu übernehmen (anstatt in einer Opferhaltung zu verharren). Verantwortung wird als Notwendigkeit gesehen, auf die jeweilige Situation bzw. auch auf das jeweilige innere Bedürfnis zu antworten, d.h. auch kreative Antworten zu finden, die den Gegebenheiten unseres Lebens gerecht werden. Jede Antwort hat wiederum Konsequenzen, denen wir uns stellen müssen. Das ist eine existentielle Tatsache.

Weitere „Kontaktstörungen“, die innerhalb des Kontaktzyklus auftauchen können ist die „Projektion“: Wir nehmen etwas ausschließlich im Außen war, weil wir es in unserem Inneren nicht annehmen oder ertragen können; die „Introjektion“: Wir haben etwas aufgenommen, was wir weder assimilieren, noch ausscheiden können und was unser Leben auf dysfunktionale Weise von unserem Inneren her beeinflusst; die „Retroflection“: Wir nehmen ein Bedürfnis wahr, verneinen es und versuchen alleine damit fertig zu werden, anstatt in Kontakt mit der Umwelt zu treten; und die „Konfluenz“: Wir treten in Kontakt mit der Umwelt und verschmelzen mit deren Erwartungen und Bedürfnissen, so dass wir als eigenständige Person (Gestalt), in unseren Eigenarten nicht mehr klar differenziert von unserer Umwelt unterschieden werden können (Überanpassung).

Die Gestalttherapie arbeitet in Bezug mit dem „Kontaktzyklus“ zunächst klärungsorientiert und dann experimentell bzw. handlungsorientiert.  In der Phase der Wahrnehmung bzw. Klärung wird die Ausbildung von Gewahrsein gefördert, damit die jeweils aktuelle „Gestalt“ bzw. das jeweils aktuell wichtigste Thema klar bewusst und prägnant werden kann. Ist das Erleben klar und bewusst, kann die Situation daraufhin untersucht und abgetastet werden, wie die Umsetzung der jeweiligen Intention erfolgen könnte, um dann anschließend entsprechen zu handeln, den Kontakt herzustellen bzw. die Intention zu realisieren. Aktiver Ausdruck, kreatives Handeln und Kontakt werden dabei gefördert. Entscheidend ist in der Gestalttherapie die gegenwärtige Erfahrung. Das „darüber reden“ wird kritisch gesehen, da es häufig als Flucht - weg von der Erfahrung – genutzt wird.

Aus den Ausführungen wird deutlich wie wichtig das achtsame Erkunden der eigenen Erfahrung, das Entwickeln achtsamen Gewahrseins im Prozess der Gestalttherapie ist (s.a. „Achtsamkeit“). Die Gestalttherapie war auch hinsichtlich dieses grundlegenden Prinzips die erste Therapieform, die Anleihen bei den östlichen Philosophien machte. Sie hatte auch hier eine Vorreiterrolle.

Wesentlich ist die Gestalttherapie auch von der dialogischen Philosophie Martin Bubers beeinflusst. Im Dialog versucht der Therapeut den Kontakt des Klienten zu sich selbst und zu seiner Umwelt zu verbessern. Dabei werden zwei Grundhaltungen unterschieden: Die „Ich-Es-Haltung“ und die „Ich-Du-Haltung“:

 

„Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. …Wer Du spricht hat kein Etwas zum Gegenstand. … Wer Du spricht hat kein Etwas…aber er steht in Beziehung. … Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, … ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend … Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden... Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. … Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir wie ich an ihm wirke. … Der Mensch wird am Du zum Ich.“ (Martin Buber, „Ich und Du“ 1923)

 

Die Grundannahme sagt also, dass Menschwerdung durch Begegnung und Beziehung geschieht. Buber ist der Überzeugung, dass Krankheiten der Seele Krankheiten der Beziehung sind. Beziehung meint eine Begegnung, in die beide gleichwertig eintreten, in der sich beide gegenseitig erfahren und in der beide aufeinander antworten. Damit ist keine distanzierte Beziehung gemeint, in der der andere Mensch wie ein Objekt gesehen und behandelt wird („Ich-Es-Haltung“). Wirkliche Begegnung und wahrhaftiges Gespräch kann nur in der „Ich-Du-Beziehung“ stattfinden, d.h., dass sowohl der Therapeut, als auch der Klient aufgefordert sind authentisch aufeinander, auf die Begegnung und die Situation zu antworten. So wird auch die therapeutische Beziehung zum Lernfeld für angemessenen Kontakt zu sich selbst und einem Gegenüber in unterschiedlichsten Situationen bzw. bei unterschiedlichsten Themen. Die therapeutische Beziehung selbst, die Erfahrung in dieser Begegnung ist also ein wichtiges Mittel, um den Kontakt des Klienten zu sich selbst und zu seiner Umwelt zu verbessern.

Berühmt ist die Gestalttherapie für ihre Rollenspiele: Klienten werden aufgefordert sich mit allen möglichen Gestalten zu identifizieren, sich hineinzuversetzen und im Rollenspiel darzustellen. Dies können Bedürfnisse, Gefühle, Elemente eines Traumes oder wichtige andere Personen sein. Letzteres wird als „Gestaltdialog“ oder „Arbeit mit dem leeren Stuhl“ bezeichnet. Es geht darum in etwas „einzutreten“ und von innen her zu erleben, das Gefühl und die Bewegungen zu spüren und sie dadurch zu verstehen, anstatt darüber zu reden. Insgesamt wird viel mit Ausdruck experimentiert. Die Wahrnehmung und das achtsame Erleben wird hierbei als per se heilsam verstanden und ist immer gegenüber Interpretation und Spekulation vorrangig.